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Ein ganz normaler Tag im Krankenhaus Soroka in Beer Sheva

9. Januar 2014 · 1 Kommentar · Gesellschaft, Medizin

Das Krankenhaus Soroka befindet sich in der Wüstenstadt Beer Sheva im Süden Israels – entfernt von den großen Zentren und zugleich in einer der wirtschaftlich schwächeren Gegenden des Landes. Hier wohnen besonders viele der beduinischen Staatsbürger Israels. Am Beispiel des Soroka lässt sich die Heterogenität der israelischen Gesellschaft zeigen und auch, wie man von ihr profitieren kann. Denn wer in die Notaufnahme eingeliefert wird, fragt nicht nach der Herkunft des Arztes. Der Artikel ist ursprünglich erschienen bei „The Marker“, wo auch Fotos der Interviewten zu sehen sind.

 

Die Lobby des Hauptgebäudes im Krankhaus Soroka vermittelt einem das Gefühl, sich im Terminal eines Flughafens zu befinden. Ein verbindendes israelisches Element lässt sich hier kaum finden. Das Sprachenwirrwarr, die Bekleidungen und Farben der örtlichen Bevölkerung, zusammen mit dem neuen Gebäude und der riesigen Skulptur des Kopfes von David Ben-Gurion, erwecken den Eindruck, dass wir uns auf internationalem Gelände befinden.

Der Eindruck des üblichen Chaos‘ in israelischen Krankenhäusern verdoppelt sich hier wegen der vielfältigen Bevölkerung. Eine Erkundung des Lebens der Menschen, die hier arbeiten und leben, illustriert, wie sehr das Krankenhaus Soroka ein Mikrokosmos der israelischen Gesellschaft ist. Nicht nur die vorüber gehenden Patienten stellen die israelische Gesellschaft in all ihren Bevölkerungsschichten dar, auch das Krankenhauspersonal spiegelt diese Vielfalt wider. Der Umstand, dass hinter diesem Durcheinander ein funktionierendes Krankenhaus steht, das etwa eine Million Menschen im Süden mit medizinischer Hilfe versorgt, kann als Vorbild dafür dienen, wie die gesamte israelische Gesellschaft ausgewogen funktionieren kann – aller Heterogenität zum Trotz.

Soroka-Krankenhaus (Foto: Avishai Teicher)

Soroka-Krankenhaus (Foto: Avishai Teicher)

Um die Bedeutung dieser Heterogenität an einem Ort wie Soroka zu verstehen, wollen wir an der Basis beginnen, an dem Ort, wo der Kreislauf des Lebens beginnt: dem genetischen Institut des Krankenhauses. Beim Leiter des Instituts, Professor Ohad Birk, spielt politische Korrektheit keine Rolle. Maßgeblich ist hier, welcher Gruppe man selbst angehört, zu welcher Gemeinschaft die Eltern gehören und woher sie stammen. „Die Herkunft ist die erste Sache, nach der du diejenigen fragst, die hierher kommen“, sagt Birk. „Nur so lässt sich eine Diagnose stellen. Man erlebt bei uns praktisch jeden Tag die Vielfalt der Bevölkerung. Im Süden leben etwa 220 000 Beduinen, die bei uns behandelt werden, und sie machen etwa die Hälfte aller Geburten aus. Wir behandeln die indische Gemeinde aus Nevatim, die äthiopische Gemeinde, russische und nordafrikanische Emigranten und die alteingesessene jüdische Bevölkerung.

In der beduinischen Bevölkerung beispielsweise gibt es viele genetische Krankheiten, die noch nicht entschlüsselt sind. Der Anteil von Ehen innerhalb der Verwandtschaft liegt in dieser Bevölkerungsgruppe bei 80%. Davon sind 60% Ehen zwischen Cousins und Cousinen ersten und zweiten Grades. In den letzten Jahren haben wir unter ihnen eine Krankheit nach der anderen entschlüsselt und die Zahl von Totgeburten in den letzten fünf Jahren um 30% gesenkt – das ist eine dramatische Veränderung.

Bei marokkanischen, nordafrikanischen und irakischen Juden gelang es uns, jene Gene zu identifizieren, die für die häufigste genetisch bedingte Krankheit, PCCA, verantwortlich sind, in deren Verlauf bei den Erkrankten verschiedene Körperfunktionen nachlassen.

Auch unter den indischen Juden haben wir angefangen, genetische Krankheiten zu entschlüsseln. Zu mir kamen Paare, die schon zwei behinderte Babys haben. Indem ich entsprechende Probleme schon vor der Empfängnis diagnostiziere, können wir dafür sorgen, dass der nächste Embryo gesund sein wird.

Unser „Lehrbuch“ ist nicht auf diese Bevölkerungsgruppen ausgerichtet, weil diese Krankheiten in der westlichen Welt untypisch sind. In den 30 Jahren, die ich hier als Arzt arbeite, habe ich nicht einen Fall von Tay-Sachs-Syndrom erlebt, eine unter aschkenasischen Juden verbreitete Erbkrankheit, die das Nervensystem des Säuglings angreift. Für jede Bevölkerungsgruppe muss ein eigenes Buch geschrieben werden.“

Ärztin/Illustration (Foto: stockphoto)

Ärztin/Illustration (Foto: stockphoto)

 

Wenn dem so ist, handelt es sich hier um Krankheiten der arabischen Welt?
Ja, so ist es tatsächlich, und die arabische Welt interessiert sich dafür, was hier geschieht. Ich wurde aufgrund unserer Forschung hier schon nach Katar eingeladen und vor kurzem habe ich Al-Jazeera ein halbstündiges Interview gegeben.“

Warum gibt es in diesen Gesellschaften so viele innerfamiliäre Ehen?
Um den Besitz und die schönen Mädchen im Stamm und in der Familie zu halten und um die Trennung zwischen den Stämmen zu bewahren. Die Stämme, die als erste auf ihren Wanderungen in eine bestimmte Gegend kamen, ließen keine Ehen mit Angehörigen später hinzukommender Stämme zu. In diesem Zusammenhang sind die Äthiopier sehr interessant: als einzige jüdische Gemeinschaft weltweit haben sie darauf geachtet, dass es nicht zu innerfamiliären Eheschließungen kommt. Es war üblich, acht Generationen zurück zu prüfen, ob es eine Blutsverwandtschaft zwischen Paaren gab. Ausgerechnet seit sie in Israel sind, wird darauf weniger geachtet, aber noch immer handelt es sich um die Gruppe mit den wenigsten genetischen Problemen.“

Gibt es unter den Beduinen eine Bereitschaft zu genetischen Tests? Schließlich lassen sie sich nur schwer zu Schwangerschaftskontrollen überreden.
Es kommen durchaus beduinische Paare vor der Eheschließung zu mir. Es kann vorkommen, dass Gruppen von Brüdern und eine andere Familie mit Töchtern zu mir kommen, und wir können ihnen sagen, wer aus genetischer Sicht am besten zu wem passt. Wir sind hier fast wie Heiratsvermittler und haben auch schon Eheschließungen verhindert.“

Und sie sind bereit, sich von einem jüdischen Arzt behandeln und belehren zu lassen?
Meine Mitarbeiter sind eine bunt gemischte Gruppe, Juden und Araber, und auch innerhalb dieser Gruppen finden Sie noch einmal verschiedenste Welten. Wir haben eine Araberin aus dem Norden, die Jeans trägt und mit einem Beduinen verheiratet ist, den sie hier kennengelernt hat. Zwei unserer Mitarbeiter haben eine jüdisch-arabische Schule gegründet. Die Heterogenität ist aus unserer Sicht schon völlig natürlich. Wenn eine beduinische Familie zu mir kommt, die irgendwo abgelegen lebt, mit dem Geruch von Lagerfeuer am Körper, dann merke und fühle ich, dass der Winter gekommen ist. 

Selbst innerfamiliäre Ehen haben in gewisser Weise viel Schönes. Einem Patienten von mir sagte ich einmal: ‚Du bist mit seiner Schwester verheiratet und er ist mit Deiner Schwester verheiratet, und sie ist Deine Cousine. Was ist, wenn Ihr Euch streitet?’ – ‚Dann explodiert die Familie’, antwortete er. Und er sagte: ‚Warum sollten wir streiten? Ich kenne meine Frau schon seit ich fünf bin.’ Ich gehe so weit zu sagen, dass auch die Tatsache, dass etwa 20 % der Beduinen eine zweite Frau haben, hilfreich sein kann. Wie viele Jüdinnen leiden darunter, dass ihnen ihr Mann nach der Scheidung keinen Unterhalt zahlt? Wie vielen Jüdinnen und Juden wird der (religiöse, A.d.Ü.) Scheidungsbrief verweigert? Hier in den polygamen Familien kennen sich die Familien, kennen sich die Kinder, alles ist extrem offen.“

 

60 % aller Gebärenden sind Beduininnen

Die nächste Station, die die Patienten des Instituts für Genetik zu erreichen hoffen, ist die fruchtbarste Geburtenabteilung Israels. Hier treffen wir Dr. Raanya Okabi, Spezialistin für Geburtskunde und Gynäkologie. „Es gibt eine weite Bandbreite gebärender Frauen: religiöse und säkulare Jüdinnen, Äthiopierinnen, Inderinnen, andere afrikanische Jüdinnen und Beduinnen. Es ist schön zu sehen, wie sie in der Geburtenabteilung Schwätzchen halten und sich austauschen, obwohl sie ganz unterschiedliche Hintergründe haben“, sagt Okabi. „In dem Aufeinandertreffen von westlicher Medizin und traditioneller beduinischer und religiös-jüdischer Bevölkerung entsteht etwas Besonderes. Fast 60 % aller Gebärenden bei uns sind Beduininnen, und 15 % von ihnen betreiben keinerlei Geburtenregelung. Auch die anderen Frauen tun nur wenig.“

Noch während wir sprechen und Okabi fragen wollen, ob es angebracht sei, so viele Ressourcen für gelingende Geburten unter den Beduinen aufzubringen und ob es nicht besser wäre, in Aufklärung zu investieren, die einen Rückgang der Geburtenrate bewirken könnte, überrascht uns Okabi und ruft lächelnd: „Ich bin Beduinin.“ Diese Auskunft überrascht angesichts der äußeren Erscheinung der jungen Ärztin in Jeanshosen, die uns herzlich die Hand drückt, vollkommen säkular erscheint und die wirkt und spricht wie jemand, der an einem durchschnittlichen israelischen Gymnasium ausgebildet wurde. Nichts an ihr entspricht dem bekannten Stereotyp der beduinischen Frau.

Okabi wurde in Beer Sheva geboren und wuchs, abgesehen von sechs Jahren in Rahat, auch dort auf. Auf unsere Frage, wie sie zur Medizin gekommen sei, antwortet sie: „Schon seit ich sechs war, wollte ich Ärztin werden. Als Kind war ich in meine Ärztin verliebt und wollte Kinderärztin sein wie sie. Aber als ich im ersten Jahr des Studiums in den Kreißsaal kam, war ich gefangen.“

 

Stammen Sie aus einer Ärztefamilie?
Nein. Meine Mutter berät die Stadtverwaltung von Hura (eine Beduinenstadt nahe Beer Sheva, A.d.Ü) in Frauenfragen und mein Vater ist Versicherungskaufmann.“

Ihr Praxisjahr absolvierte Okabi im Krankenhaus Rambam in Haifa. Danach war ihr klar, wohin sie gehen würde. „Ich wollte in Soroka arbeiten, wegen der Vielfalt des Ortes, und auch weil ich Beduinin bin, wie 58 % der Frauen, die hier ihre Kinder zur Welt bringen. Die Geburtenrate bei uns ist dreimal so hoch wie die der Juden und doppelt so hoch wie die der Araber im Norden.“
Warum also betreiben die Beduininnen keine Geburtenkontrolle?
„Diese Menschen haben kein Vertrauen in das System. Sie glauben, dass es gottgewollt ist, wenn ein Embryo eine Missbildung hat und dass man vor der Geburt des Kindes nichts sicher wissen kann. Außerdem handelt es sich um eine Bevölkerungsgruppe mit wenigen Ressourcen. Die Bewohnerin eines nicht anerkannten Dorfes hat kaum die Möglichkeit, rechtzeitig zur Vorsorgeuntersuchung zu kommen, vor allem, wenn sie sechs kleine Kinder zu Hause hat, die sie nicht einfach allein lassen kann. Dazu kommen Verständnisprobleme. Nehmen wir an, ich sage einer Frau, dass ihr Kind mit 50 % Wahrscheinlichkeit das Down-Syndrom haben wird, aber sie bricht die Schwangerschaft nicht ab und bringt ein gesundes Kind zur Welt. Dann wird sie ihren Freundinnen sagen, dass die Leute im Krankenhaus lügen. Wer weder lesen noch schreiben kann, dem lässt sich nur schwer die Bedeutung statistischer Wahrscheinlichkeitswerte erklären.

Da kann es zu extremen Fällen kommen, bei denen wir herausfinden, dass ein Baby eine extreme Missbildung hat, also etwa kein Gehirn hat und damit keinerlei Überlebenschance. Die Frau bricht die Schwangerschaft trotzdem nicht ab, weil ihre Religion es ihr verbietet, einen Schwangerschaftsabbruch nach Beginn der 16. Woche durchzuführen und in aller Regel wird sie mit den Vorsorgeuntersuchungen erst nach diesem Zeitpunkt beginnen. Auch die jüdisch-orthodoxen Frauen, die hierher kommen, betreiben keine Geburtenkontrolle. Ein Abbruch kommt für sie eh nicht in Frage. Ausgerechnet in gebildeten beduinischen Kreisen finden sich häufiger Schwangerschaftsabbrüche und die Frauen verwenden zunehmend Verhütungsmittel. Wenn die Frauen arbeiten, haben sie weniger Kinder, da sie es sonst nicht schaffen würden. Es ist bei uns eben so, dass auch beispielsweise eine Lehrerin immer noch für alle Arbeiten im Haus zuständig ist. Im Allgemeinen sinkt also in diesen Kreisen die Geburtenrate, aber das schwankt auch je nach Frau.

In Rahat können Sie Frauen finden, die zum Arzt gehen, sobald ihre Periode nur einen Tag später kommt. Auf der anderen Seite kann es passieren, dass eine Frau in einem nicht anerkannten Dorf erst im siebten Schwangerschaftsmonat zum Arzt geht. Wir haben ein Einzugsgebiet von 200 000 Menschen, mit weitem Spektrum. Zu uns kommen zum Beispiel viele Frauen aus dem Ausland, Frauen aus Deutschland, aus Ungarn, aus Hebron, oder russische Frauen, die hier drei oder vier Kinder zur Welt bringen.“


Wie zeigt sich in der Geburtenabteilung die Verbindung, von der Sie sprachen, die Begegnung von westlicher Medizin und traditioneller Bevölkerung?
„Jedes Jahr haben wir mindestens einen Hospitanten aus einem anderen Krankenhaus auf der Welt, der unsere Arbeit kennenlernen möchte. Viele der Frauen hier durchlaufen komplizierte Schwangerschaften mit vielen Risiken. Beispielsweise hatten wir Frauen mit sieben oder acht Kaiserschnitten – so etwas gibt es sonst nirgendwo auf der Welt.“


Warum gebären sie weiter, trotz des hohen Risikos bei Kaiserschnitten?
„Sie sind nicht zu einer Ligatur des Eileiters bereit. Das hängt mit der Bedeutung der Kinder in unserer Religion zusammen: sobald die Frau keine Kinder mehr bekommt, hat sie keinen Wert mehr und der Mann sucht sich eine andere Frau. 20-30 % der Frauen, die hierher kommen, leben in polygamen Beziehungen.“

Kaiserschnitt/Illustration (Foto: arztsamui)

Kaiserschnitt/Illustration (Foto: arztsamui)

Es ist merkwürdig, eine Ärztin wie Sie, die eine Institution vertritt, zu hören, die ihre eigene Bevölkerungsgruppe analysiert.
„Die Dinge sind nicht immer so wie sie scheinen. Sie können manchmal erleben, wie die zweite Ehefrau die erste Frau bei der Geburt unterstützt, und sie verhalten sich zueinander wie Schwestern. Ich kann damit leichter umgehen, weil ich zwischen den Welten stehe – zwischen der schulmedizinischen und der beduinischen. Ich werde oft von den Oberärzten dazu geholt, um einer Frau zu erklären, an welchen Behinderungen ihr Kind leidet. Oder es heißt: ‘Wir haben hier eine Frau, die sich weigert, einen Kaiserschnitt zu machen, weil sie glaubt, dass ihr Kind in einer bedrohlichen Lage ist’, und kaum beginne ich mit ihr zu sprechen, stimmt sie dem Eingriff zu.“


Was für einen Einfluss hat die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung auf die Dienste, die sie in Anspruch nehmen?
„Es gibt einen Zusammenhang. Die Messung der sogenannten Nackentransparenz beispielsweise war bis Anfang des Jahres noch privat und wurde kaum durchgeführt. Dieses Jahr wurde sie in den Vorsorgekatalog aufgenommen und immer mehr Frauen nutzen das.“


Sind Sie optimistisch mit Blick auf die beduinische Bevölkerung?
„Allgemein gesprochen – ja. Aber in den letzten Jahren mache ich mir etwas Sorgen. Der rasante und wenig fließende Wechsel vom traditionellen zum westlichen Lebensstil ist sehr problematisch und verursacht chaotische Verhältnisse. Die junge Generation ignoriert die traditionellen Codes, ohne wirklich die Codes der westlichen Welt zu adaptieren. Es gibt eine wirtschaftliche Verbesserung, aber in vielerlei Hinsicht haben die Jungen gerade die weniger guten Punkte der westlichen Kultur übernommen.“

 

„Den kulturellen Hintergrund der Patienten ganz verstehen“

Nachdem sie bei Okabi waren, landen die Patientinnen häufig bei Iris Schoham, Oberärztin im Kreißsaal. Schoham ist eine religiöse Jüdin, die weit entfernt von Beer Sheva aufwuchs, eine schillernde Persönlichkeit. Sie ist Mitglied in der Rettungseinheit der Arava-Region, spielt Basketball bei Makkabi Jerocham, in ihrem Wohnort im Negev, und ist, wenn sie die Zeit findet, auch Chocolatière. Schoham stammt aus Givatayim und zog mit ihrem Mann in den Süden, der dort in einem „Garin Torani“ diente (einer Einheit speziell für religiöse Menschen, die dort eine Art Zivildienst vor dem eigentlichen Armeedienst leisten, A.d.Ü.). Sie wohnen mit ihren fünf Kindern aus Überzeugung in Jerocham, um die lokale Bevölkerung zu stärken.

Ist es erfüllend, in Jerocham zu leben?
„Viel erfüllender ist es, im Soroka zu arbeiten. Dieser Ort hat etwas Starkes an sich.“

Spielt die Heterogenität der hiesigen Bevölkerung eine Rolle bei der Arbeit im Kreißsaal?
„Die Bedeutung dieser Heterogenität lässt sich nicht hoch genug einschätzen. Ich werde nicht verstehen, wie die Frau mir gegenüber tickt, wenn ich nicht in tiefer Weise die Kultur verstehe, aus der sie kommt, selbst wenn ich die Sprachbarriere mithilfe einer Dolmetscherin überwinde. Wenn ich zum Beispiel die werdende Mutter davon überzeugen muss, einem Kaiserschnitt zuzustimmen: wenn da ein 19 Jahre altes Mädchen vor mir sitzt, von der ich weiß, dass sie im Leben möglichst eine zweistellige Anzahl von Kindern gebären will, werde ich alles daran setzen, keine Operation durchführen zu müssen. In Soroka werden beispielsweise Geburten bei Steißlage zugelassen, was in anderen Krankenhäusern unüblich ist.

Die Welt aus der ein Teil der Frauen hier kommt, ist eine vollkommen andere und dieser Umstand muss Teil meiner medizinischen Abwägungen sein. Manchmal führt das zu Widersprüchen. Immerhin kam ich hierher, um Leben zu retten, und manche Frauen verweigern sich einem Kaiserschnitt. Das ist extrem hart. Ebenso im umgekehrten Fall, wenn eine Frau die Schwangerschaft wegen eines kleinen Makels abbrechen will. Da gibt es keine einfachen Antworten.“

Ist es relevant, dass sie religiös sind?
„Durchaus, wenn es etwa um ein orthodoxes jüdisches Paar geht, das Sie nur ganz verstehen können, wenn Sie selbst religiös sind. Es kam vor, dass sich eine orthodoxe Frau eineinhalb Stunden mit mir unterhielt, ein langes Gespräch, ohne jeden medizinischen Inhalt, aber in ihren Augen von großer halachischer Bedeutung (auf den jüdischen Rechtskanon bezogen, A.d.Ü). Ich kann ein tiefes Verständnis für eine Frau entwickeln, die mir sagt: ‚Ich werde auf keinen Fall einer Untersuchung zustimmen. Ich nehme das Kind an wie es ist‘. Ich verurteile weniger und verstehe sie besser und es ist mir egal, ob es sich um eine Jüdin oder eine Beduinin handelt. Gerad die israelischen Bevölkerungsgruppen am äußeren Rand – religiöse Beduinen und orthodoxe Juden – ähneln sich in vieler Hinsicht. In beiden Gruppen gibt es beispielsweise Situationen, in denen die Frauen keinen einzigen Mann im Raum tolerieren. Ich muss entscheiden, wo meine Grenzen liegen. Die Gesellschaft wird auch vielschichtiger. In den neu gegründeten Dörfern im Negev leben oft säkulare Frauen, die aus dem Zentrum stammen, und die ihre privaten Hebammen hierherbringen, die extra aus dem Golan anreisen. Manche möchten unbedingt ihre Untersuchungsergebnisse um zwölf Uhr nachts an einen bestimmten Professor im Ichilov-Krankenhaus in Tel Aviv faxen, der die Ergebnisse prüfen soll. Respekt vor den Professoren im Zentrum, mit was für Angelegenheiten die sich dort beschäftigen. Ich meine, bei den Beduinen – die hier in der Mehrheit sind – gibt es überhaupt keine Privatmedizin. Wir sind das hier nicht gewohnt.

Es kamen Paare, die tags zuvor noch in der Shenkin-Straße in Tel Aviv gewohnt haben, und die noch während der Geburt sagen: ‚Kommt, wir operieren. Ich will ihn schon ganz draußen haben‘. Insofern sind die typischen Eigenschaften bestimmter Gruppen wirklich entscheidend für die medizinischen Entscheidungen.“

Was unterscheidet Euch von einem Krankenhaus im Zentrum des Landes?
„Im Klartext: wir sind professioneller und freundlicher“, sagt Schoham lächelnd. „Wir haben viel mehr Erfahrung. Ich denke, dass wir von dem, was man Amerikanisierung der Medizin nennt, weniger betroffen sind als die Einrichtungen im Zentrum.“

Nach zwanzig Jahren in Soroka, haben Sie eine Lehre gezogen, was die Heterogenität der israelischen Gesellschaft betrifft? Kann sie friedlich längere Zeit fortbestehen?
„Heterogenität ist eine wunderbare Sache. Wenn alle gleich wären, würde es langweilig. Wir lieben es so. Gerade in den kleinen Dingen ähneln wir uns alle. Wir bringen alle Kinder zur Welt, haben alle Schmerzen, bei allen zieht sich die Gebärmutter am Tag nach der Geburt zusammen, wir haben Probleme beim Stillen, und alle freuen wir darüber, dass ein Kind geboren ist. Die Erfahrungen sind dieselben, und bringen uns trotz aller Unterschiede zusammen.“

All diese Bevölkerungsgruppen können friedlich auf dem Fleckchen Erde zusammenleben, das wir Israel nennen?
„Ich denke: ja.“


„Manchmal genügen nur drei Worte in der Sprache des Patienten“

Auch Sarah Zanava, Oberschwester in der Abteilung Innere Medizin 5 des Soroka, ist optimistisch, was das Zusammenleben der Gemeinschaften betrifft. Die 38 Krankenschwestern und Pfleger, für die sie verantwortlich ist, spiegeln die israelische Gesellschaft in ihrer Vielfalt wider. Es gibt sogar eine aus Irland eingewanderte Krankenschwester und eine andere aus Südafrika.

„Es geht mir gut hier. Wir leben gut hier“, sagt Zanava. „Es müssen nicht alle gleich sein. Gerade die Unterschiede führen dazu, den anderen anzunehmen und zu integrieren. Vor kurzem hat eine Mitarbeiterin der Abteilung geheiratet. Sie stammt ursprünglich aus dem Norden und alle wollten hinfahren und stritten sich darum, nicht hierbleiben zu müssen.“ Zanava stammt aus Äthiopien und floh 1982 über den Sudan nach Israel als sie sieben Jahre alt war. „Gabi Sukenik  und die Schajetet 13 (Elite-Kampfschwimmereinheit der israelischen Armee; der bekannte Nachrichtensprecher Sukenik war dort Mitglied, A.d.Ü.) haben mich rausgeholt“, erzählt sie lächelnd. „Sie täuschten vor, eine Tauchschule im Sudan eröffnen zu wollen“.  Zanava besuchte ein Gymnasium mit Pflegeschwerpunkt, leistete in der Armee Sanitätsdienst, und machte nach dem Dienst eine Ausbildung zur Krankenschwester. Außerdem erwarb sie einen Studienabschluss in medizinischer Verwaltung.

Was bedeutet es, mit so einer bunten Gruppe von Mitarbeitern zu arbeiten?
„Es sorgt für eine besondere Atmosphäre interkulturellen Austausches. Außerdem bedarf es besonderer Organisation, wenn eine Gruppe einen Feiertag begeht. Die Schwestern müssen jeweils gegenseitig die Schichten übernehmen, wenn bei anderen ein Feiertag bevorsteht. Von den 38 Schwestern sind zehn Araberinnen, und zum Opferfest am Ende des Ramadan möchten alle Urlaub nehmen. Es funktioniert, wir versprechen den anderen, dass sie zum Ausgleich an Neujahr frei nehmen können.“

Achten Sie darauf, die Schwestern entsprechend der Herkunft der Patienten einzusetzen?
„Wir bemühen uns. Immerhin haben wir von allem etwas. Wenn ich einen russisch- oder arabischsprachigen Patienten habe und eine Schwester mit derselben Muttersprache da ist, dann kümmert sie sich um den Patienten. Aber nicht immer.“


Haben die Patienten typische Krankheitsbilder je nach Herkunft? In der Vergangenheit wurde behauptet, dass zum Beispiel Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck nur bei westlichen Patienten auftreten.
„Das ist nicht mehr so. Diabetes, Bluthochdruck und Herzinfarkt – heute leiden alle unter denselben Krankheiten.“


Professor Mahmud Abu Shakra, Leiter der Abteilung Innere Medizin 4 des Krankenhauses, sieht dennoch Bereiche, wo medizinische Unterschiede zwischen den Gruppen erkennbar sind. „Unter Beduinen gibt es mehr Schmerzsyndrome und mehr Fälle von Vitamin B12-Mangel und von Krankheiten, die mit Vitamin D-Mangel zusammenhängen, wegen der Gifte, denen sich die Frauen aussetzen. Außerdem treten unter den Frauen häufiger Phänomene auf, die von schlechtem Schlaf herrühren und Probleme aufgrund der geringen Aufnahme von Milchprodukten.“

Abu Shakra arbeitet schon seit 1986 im Soroka. Er stammt aus Um Al-Fahm und studierte Medizin an der Universität Tel Aviv, bevor er im Rambam-Krankenhaus in Haifa sein Praxisjahr absolvierte. „Meine Mutter wollte unbedingt, dass ich Arzt werde, aber ich entschied mich stattdessen für Ingenieurwissenschaften. Als sie im Alter von 49 Jahren überraschend verstarb – ich war 18 Jahre alt – traf mich das sehr, und ich begann, Medizin zu studieren“, erzählt er.

Warum haben Sie sich nicht für das Rambam-Krankenhaus entschieden, das näher an ihrem Heimatort liegt?
„Ich wurde dort einfach nicht heimisch. Das hat mit dem Arbeitsstil zu tun und mit der Interaktion zwischen den Mitarbeitern.“


Wir kamen Sie nach Beer Sheva?
„Bis zum Ende meines Studiums war ich nie in Beer Sheva. Einer meiner Mentoren während des Studiums und im Praxisjahr lud mich ein, hierher zu kommen. Ich habe hier meine Facharztausbildung gemacht und fühlte mich dem Ort und der Vielfalt der Menschen verbunden. Die medizinische Fakultät der Universität Beer Sheva liegt in unmittelbarer Umgebung zum Soroka und die Verbindung zum Krankhaus ermöglicht es mir, zu forschen und mich zu spezialisieren.“


War es nicht schwer, sich an das Leben in der Wüste zu gewöhnen?
„Meiner Frau, die auch aus dem Norden kommt, fiel es schwerer.“
Nach seiner Facharztausbildung in der inneren Abteilung des Soroka fuhr Abu Shakra nach Toronto, um sich im Bereich Rheumatologie zu spezialisieren – also auf Krankheiten, die mit den Gelenken und dem Binde- und Stützgewebe zusammenhängen. „Nach meinem Aufenthalt in Kanada erhielt ich Angebote aus dem ganzen Land, aber wenn man sich an einem Ort wohlfühlt und es in den Lebensplan passt  – warum sollte man etwas ändern? In Soroka kann man noch mehr geben. Es ist ein Ort, an dem man schwächeren Bevölkerungsgruppen helfen kann, und zugleich ist es hier weniger gedrängt und es gibt weniger Druck und Konkurrenzdenken, hier kann man sich entfalten und vorankommen. Im Zentrum des Landes leben mehr Ärzte, die um jeden Posten und jede Beförderung wettstreiten.“

Haben Sie nicht darüber nachgedacht, in Toronto zu bleiben? Immerhin ist es weltweit eines der Zentren für Ihr Fachgebiet. Hat Sie das nicht gereizt?
„Überhaupt nicht. Kulturell ist das eine ganz andere Welt. In ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht war es verlockend, aber ich gehöre hierher. Ich bin an den Ort zurückgekehrt, wo ich gebraucht wurde.“


Zweimal in der Woche fährt Abu Shakra nach Rahat und versorgt die Bevölkerung mit medizinischer Grundhilfe, das heißt, er kümmert sich um die grundsätzlichen Leiden der Patienten. „Dort sehe ich meine eigentliche Berufung als Arzt“, sagt er. „Ich finde die Kranken mit ihren Problemen und leiste vorbeugend medizinische Hilfe, beispielsweise gegen Diabetes oder Bluthochdruck.“
Auch in Kiryat Gat (Stadt mit sehr heterogener Bevölkerung und relativ niedrigem sozio-ökonomischem Niveau in der Peripherie Beer Shevas, A.d.Ü.) hält Abu Shakra einmal im Monat Sprechstunde und kommentiert: „Ich muss das nicht machen, aber ich habe dort eine Praxis schon im Jahr 1995 eröffnet, nachdem ich aus Toronto zurückkam. Wenn du die Menschen 20 Jahre lang begleitest, dann kannst du nicht so einfach verschwinden.“

Gibt es Unterschiede in der Art, wie Sie Patienten in Kiryat Gat, in Omer oder in Rahat behandeln?
„Nein. Ich denke, dass man als Arzt seine ganze Kraft ohne Ansehen der Person einsetzen muss.“


Hilft Ihnen die arabische Sprache bei der Behandlung der Beduinen?
„Es gibt Sprachbarrieren und es gibt kulturelle Barrieren. Wir versuchen beispielsweise Beduininnen jenseits der 50 davon zu überzeugen, eine Mammographie durchzuführen. Manchmal willigen sie nicht ein – und dann ist es die Aufgabe des Arztes, sie zu überzeugen. Ein Arzt muss sich anpassen und einfühlen. Manchmal genügen drei Worte in der Sprache des Patienten, um die Botschaft zu vermitteln. Wenn ein Mensch im Alter von 50 Jahren einen Herzinfarkt hat, dann ist es egal, ob er Russe, Jude oder Beduine ist – die Welt stürzt über ihm zusammen. Dann stehst du vor ihm und musst ihm erklären, was geschehen ist.“


Gibt es Unterschiede in der Art und Weise, in der verschieden Bevölkerungsgruppen mit verschiedenen Krankheiten umgehen?
„Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich in den letzten Jahren alles verändert hat. Diese Veränderungen betreffen das Verhältnis der Gruppen untereinander und vollziehen sich innerhalb der einzelnen Gruppen, so dass man kaum verallgemeinern kann. Am Beispiel Herzinfarkt: wenn Sie drei Juden oder drei Beduininnen nehmen, dann treffen Sie auf drei verschiedene Reaktionen in jeder der beiden Gruppen. Der eine wird nicht auf Sie hören und behaupten, es sei nichts geschehen, der zweite wird weiter rauchen wie ein Schlot trotz des Infarkts und der dritte wird erschrecken und sein Leben ändern. Stereotype haben keinen Platz mehr. Es liegt doch im Interesse aller, dass die Bevölkerung gesund ist. Bessere Gesundheit bedeutet weniger Kosten.“



Die betriebsamste Notaufnahme Israels

Nirgendwo spielt das Thema Kosten eine größere Rolle als in der Notaufnahme im Soroka. „Die Leichtfertigkeit, mit der alle Bevölkerungsgruppen in die Notaufnahmen kommen, ist kaum auszuhalten“, sagt Dr. Vladimir Saldatz, Oberarzt in Abteilung für Notfallmedizin, der seit 1995 im Krankenhaus beschäftigt ist. „Ein Großteil von ihnen überspringt die medizinische Kommunalversorgung. Wir haben nicht das Privileg anderer Krankenhäuser im Land, Patienten einfach nicht aufzunehmen. In den Nachrichten können Sie hören, dass das Rambam-Krankenhaus in der Erkältungszeit im Winter die Türen schließt. Bei uns haben die Menschen keine Wahl.“

Das Krankenhaus Soroka liegt abgeschieden. In Haifa allein gibt es drei Krankenhäuser und im Zentrum des Landes gibt es mehrere Krankenhäuser in einem Radius von 20 Kilometern. Für Soroka gibt es keine Ausweichmöglichkeit. Es ist das einzige große Krankenhaus im Süden und ist zugleich Ersatz für die Krankenhäuser Barzilai in Aschkelon und Yoseftal in Eilat.

Entsprechend ist die Notaufnahme nirgendwo im Land so voll wie im Soroka. Hierher kommen Verletzte aus dem Gazastreifen – Soldaten und auch Palästinenser mit Schussverletzungen, Flüchtlinge aus dem Sudan, die beim Überqueren der ägyptischen Grenze verletzt wurden, Verletzte von Unfällen auf den Hauptstraßen nach Süden, Beduinen, die unter den ärmlichen Bedingungen leiden, unter denen sie leben, lokale Kleinkriminelle mit Stichwunden und Wanderer, die auf dem Weg nach Massada einen Kreislaufkollaps erlitten haben.

Bevor er 1991 nach Israel einwanderte, konnte Saldatz noch für drei Jahre das russische Gesundheitssystem erleben. „Das ist ein vollkommen anderes System, in organisatorischer Hinsicht und was die Behandlung der Patienten betrifft“, sagt er. „In der Sowjetunion gab es einen ganzheitlichen Behandlungsansatz. Man nahm immer alle Probleme des Patienten in den Blick und versuchte alle zu lösen. In Israel dominiert der amerikanische Ansatz, bei dem man sich auf das spezifische Problem konzentriert, das Sie hergeführt hat.“

Im Jahr 1992 bestand Saldatz die israelischen Anerkennungsprüfungen und erhielt seine Lizenz. Er meldete sich zur Armee und diente zwei Jahre als Arzt im Technikbataillon. „Ich hätte mich verpflichtet, aber meine Frau war dagegen“, sagt er. „Als ich meinen Armeedienst begann, zog die ganze Familie nach Beer Sheva, so dass ich nach meiner Entlassung hier zur Facharztausbildung angenommen wurde.“

Als Patient habe ich manchmal den Eindruck, dass es bei Ärzten aus der ehemaligen GUS ein stärkeres Hierarchieverständnis zwischen Patient und Arzt gibt. Es scheint Ihnen unangenehmer zu sein, wenn Patienten viele Fragen stellen und ihre Diagnose in Zweifel ziehen.
„Das ist ganz individuell. Ich würde nicht sagen, dass das für alle Ärzte aus den GUS-Staaten gilt. Wenn ich einem Patienten zum ersten Mal begegne, versuche ich, für eine freundschaftliche Atmosphäre zu sorgen und zu vermitteln, dass ich für ihn da bin, ungeachtet der Herkunft. Sie müssen sich demjenigen anpassen, der zu Ihnen kommt, dürfen nicht überheblich sein und Sie müssen eine klare Sprache und auf Augenhöhe sprechen. Unter meinen Bekannten sind Ärzte aus dem Zentrum und dem Norden des Landes, aus dem Ausland – Deutschland und den USA – und es gibt keine wesentlichen Unterschiede.“
Saldatz unterbricht das Gespräch für einen Moment, um ein Telefongespräch entgegen zu nehmen, in dem man ihn über eine russische Touristin informiert, die sich am Toten Meer den Oberschenkel gebrochen hat. Sie befindet sich auf dem Weg ins Krankenhaus und man möchte sich mit ihm wegen der Medikamente beraten, die die Frau in Russland verschrieben bekommen hat und die in Israel unbekannt sind.

Wie sehr unterscheidet sich die Behandlung in der Notaufnahme je nach Bevölkerungsgruppe? Leiden die Beduinen nicht darunter, dass sie später im Krankenhaus ankommen und manchmal warten müssen?
„In den neunziger Jahren gab es vielleicht solche Fälle, wo ein Mensch, der wie die Beduinen abgeschieden lebt, zu spät in die Notaufnahme kam und man ihn hätte retten können, wenn er früher gekommen wäre. Heute ist das anders. Die Beduinen kommen ebenso gut und schnell hierher wie die Bewohner der umliegenden Siedlungen.“


Was ist mit dem Druck, den die verschiedenen Gruppen auf den Arzt ausüben?
„Hitzige Reaktionen sind eher ein Problem des ganzen Landes. Das kann Ihnen mit einem Aschkenasi (europäischstämmigen Juden, A.d.Ü.) aus Omer ebenso passieren wie mit einem Siedler aus den Gebieten oder einem Beduinen. Das kommt auf die Umstände an. Aber wenn man einen persönlichen Kontakt hat, beruhigen sich die Dinge meist.“
Dr. Husseini Al-Qarnawi arbeitet als Oberarzt in der Notaufnahme mit Dr. Saldatz zusammen. Er ist seit 17 Jahren im Soroka. „Ich bin ein Kind von Rahat-City“, sagt er lächelnd, als wir ihn nach seiner Herkunft fragen.

Wie kommt der Sohn einer beduinischen Familie dazu, Oberarzt in der Notaufnahme zu werden?
„Alles begann mit meinem Großvater. Er hat mir immer gesagt: ‚Lerne, sei ein guter Mensch und suche dir deinen Weg‘. Wir haben viele Ärzte in der Familie, auch Rechtsanwälte, Sozialarbeiter und Krankenschwestern. Ich war einer der ersten Ärzte in Rahat, heute gibt es etwa 50. Das ist ein Durchbruch hin zu einem besseren Leben. Heute gibt es zwischen den Familien einen Wettstreit, wer mehr Akademiker hervorbringt.“
Al-Qarnawi hat in Rumänien studiert und Praktika in den Krankenhäusern Barzilai und Soroka absolviert. „Mir war klar, dass ich in diesem Krankenhaus arbeiten würde, das die Bevölkerung im Süden versorgt“, sagt er.

Gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem rumänischen und dem israelischen Gesundheitssystem?
„Wir sind noch weit von der europäischen Kultur entfernt. Dort warten die Menschen ruhig in der Schlange. Vielleicht sind wir in zwei oder drei Jahrzehnten auch soweit.“


Freuen sich Beduinen, die hier eingeliefert werden, wenn sie bemerken, dass Sie einer von ihnen sind?
„Immer wieder zeigen Patienten, nicht nur Beduinen, auf mich und sagen: ‚Wir wollen, dass er uns behandelt‘. Die Beduinen freuen sich, einen Arzt zu bekommen, der ihre Sprache spricht, aber letztlich ist es dem Patienten nicht so wichtig, welcher Arzt ihn behandelt.“

Arme Menschen geben weniger für die Gesundheit aus

Dr. Ehud Davidson, der Geschäftsführer des Soroka, ist davon überzeugt, dass die Heterogenität des Mitarbeiterstabes einer der Vorteile des Krankenhauses im Süden ist. „Unsere Mitarbeiter sind in der Bevölkerung verankert, die wir behandeln, und die ist ebenso heterogen. Es hilft dabei, die Unterschiede der Kulturen und der gesundheitlichen Gewohnheiten zu überbrücken und ermöglicht den Dialog.“

Nach Auskunft Davidsons weist das Soroka, wie die meisten Krankenhäuser in Israel, ein Defizit aus. Unter anderem liegt dies daran, dass die letzte Gehaltsvereinbarung mit den Ärzten, Boni für diejenigen vorsieht, die ihren Wohnort in die Peripherie verlegen und, zum Beispiel, im Soroka arbeiten. Laut Davidson funktioniert die Idee dahinter: „Die Folge ist, dass wir jetzt auch die Fachgebiete besetzen können, auf denen wir vor einigen Jahren noch personelle Engpässe hatten“.

Hat die Tatsache, dass der Patientenkreis des Soroka ärmer ist als in anderen Häusern im Land, wirtschaftliche Folgen?
„Es gibt eine weltweite Konstante, nach der Bevölkerungen, die sich auf niedrigerem sozio-ökonomischen Niveau befinden, einen höheren Bedarf an medizinischen Dienstleistungen haben. Das hängt mit dem niedrigeren Bewusstsein für die eigene Gesundheit zusammen. Außerdem geben die Menschen weniger für die Gesundheitsvorsorge aus. Sie vermeiden rechtzeitige Behandlungen, die kurzfristig Geld kosten, und in der Folge steigt unter ihnen mittel- und langfristig die Krankheitsrate und damit letztlich die Gesamtkosten.“


Was ist mit dem sogenannten „Medizintourismus“ als zusätzliche Einnahmequelle?
„Einen solchen Tourismus gibt es im Soroka derzeit kaum. Das braucht Zeit, aber wir haben uns vorgenommen, uns in diese Richtung zu erweitern – solange es nicht zu Lasten der Versorgung der lokalen Bevölkerung geht.“

(The Marker, 02.01.14)

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Ein Kommentar bisher ↓

  • Greßmann

    Danke für diesen Artikel, der uns Einsicht gibt in diesen ganzen normalen Tag im Krankenhaus in Beer Sheva! Wir Deutsche können von diesem „Miteinander-Füreinander“, trotz allen bestehenden Unterschiedlichkeiten, noch viel lernen! Danke!

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