Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin sehr dankbar dafür, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Dies ist alles andere als selbstverständlich.
In meiner offiziellen Funktion, als leitender Attaché der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Botschaft Israels in Deutschland, nehme ich an unzähligen Veranstaltungen und Begegnungen teil, bei denen wir, als Nachkommen der Täter und der Nachkommen der Opfer, die Brücke zu erneuern versuchen, die unsere beiden Völker verband. Wir stellen uns gemeinsam den Fragen nach Identität, nach Verantwortung und Verpflichtung. Gemeinsam versuchen wir, Begriffen wie zikaron und hantzacha, also Gedenken und Bewahrung – oder Verewigung – Bedeutung zu verleihen, und Lehren aus der Vergangenheit zu formulieren. Manchmal ist dies ein Dialog auf politischer und moralischer Ebene, und manchmal spielen auch ganz persönliche Perspektiven eine Rolle.
Heute, fast 70 Jahre nach dem Ende des Schreckens, sind die Fragen nach der Zukunft der Erinnerung und den möglichen Formen der Bewahrung nicht weniger wichtig als das Gedenken selbst. Was geben wir den kommenden Generationen weiter? Wie vermitteln wir ihnen den schrecklichen Bruch zwischen unseren beiden Völkern?
Für das jüdische Volk ist die Shoah ein nationales Trauma. Mit ihr verknüpfen sich Fragen der Moral, der Identität, der Skepsis. Für uns Israelis ist die Shoah wie eine Warnlampe, die vor uns aufleuchtet, wenn unsere Heimat bedroht ist, mit der unser Schicksal verbunden ist.
Wie können wir diese Gefühle unseren deutschen Gesprächspartnern vermitteln?
Das aktive Bewahren erfüllt die Erinnerung mit Leben. Ohne Bewahren sind wir zum Vergessen verurteilt und wir wiederholen unsere Fehler der Vergangenheit. Der israelisch-deutsche Dialog gründet sich auf der gemeinsamen Arbeit an der Vergangenheit, der Stärkung gemeinsamer Werte und der Gestaltung der Zukunft. Eine der Herausforderungen, die das Gedenken an uns stellt, besteht darin, weiter zu erzählen und dem Erzählen ein menschliches Antlitz zu geben. Ohne menschliches Antlitz bleibt das Gedenken isoliert, fremd, unklar.
Aus diesem Grund möchte ich heute das Gedenken durch eine persönliche Geschichte erhellen. Diese persönliche Geschichte beruht auf einem Brief, der im Januar 1946 von Eva Weichherz an ihre Cousine geschrieben wurde. Ende 1944 wurde Eva gemeinsam mit ihrer Mutter Renate in das Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Eva Weichherz erhielt die Nummer 95718. Die Nummer ihrer Mutter Renate ist uns nicht bekannt. Renate und Eva wurden in der Ost-Slowakei verhaftet, inhaftiert und verhört, und nach einigen Tagen mit einem Transport nach Ravensbrück gebracht. Sie schreibt wie folgt:
Wir waren im städtischen Gefängnis inhaftiert und wurden gerade an diesem gefährlichen Montag unter besonderer Aufsicht nach Trnava abgeschleppt. Hier saßen wir wieder zwischen den einzelnen Verhören im Gefängnis. Dort wollten sie vor allem von uns erfahren, wo sich mein Vater aufhält und wo unser Vermögen ist. Sie versprachen uns, dass wir frei kommen, wenn wir es verraten. Nicht umsonst bin ich Tocher eines gewieften Vaters. Als sie sahen, dass sie nichts erreichen, verlegten sie uns nach Sereď und übergaben uns an die deutsche SS. Von dort teilten sie uns in einen Abtransport ein. Acht Tage lang fuhren wir in Güterzügen für den Viehtransport. Auf größeren Bahnhöfen, vor allem in Berlin, wurde unser Zug bombardiert. Aber unsere schlimmsten Qualen begannen nach diesen acht Tagen, als wir nämlich im berüchtigten Konzentrationslager Ravensbrück – Fürstenberg ankamen. Es liegt etwa 60 bis 80 km von Berlin entfernt.
Und sie fährt fort:
Es war ein schreckliches Konzentrationslager, obwohl dort hauptsächlich Arier waren. Ich will es nicht ausführlicher beschreiben, bestimmt habt ihr genug darüber gelesen. Es war schlimmer, als unsere schlimmsten Vorstellungen. Wenn eine Maus von einer Katze umgebracht wird, muss sie dabei nicht solche Qualen erleiden wie wir. Meine Nerven versagten ihren Dienst, ich konnte nichts essen. Für meine Mutter besorgte ich, was nur irgendwie möglich war. Ich musste als Leichenträgerin regelmäßig ins Krematorium gehen. Lange hielt ich es jedoch nicht aus. Ich konnte nicht von vier Uhr morgens manchmal den ganzen Tag ohne Essen auf den Beinen stehen. Einmal gab es eine Selektion und ich wurde auf die Seite der Kranken hingestellt. Das bedeutete schon Gefahr. Nach großen Anstrengungen kam ich zu den Gesunden, aber dann wurde ich wieder von meiner Mutter getrennt. Meine Mutter wollte mich nicht allein lassen, lieber ließ sie sich schlagen. Ich konnte damals kaum stehen und musste ansehen, wie sie meine Muttermeinetwegen schlagen. Letztendlich gelang es meiner Mutter unter einem fremden Namen zu mir zu kommen. Das war meine Rettung.
Wieder wurden wir dann abtransportiert.
Vor dem Abtransport im kühlen März gaben sie uns zweifarbige Röcke, Holzpantoffeln und Sommerkleider. Fast bei jeder zweiten Frau wurden (die Haare abgeschnitten), die Köpfe glatt rasiert. Sie nahmen uns den Kamm, das Taschentuch und alles, alles weg. Nicht einmal ein Stück Papier ließen sie uns, obwohl wir Durchfall hatten. So standen wir nass und fast nackt von einem Abend bis zum nächsten Tag gegen Abend, bis sie uns wieder in Waggons steckten. Wir bekamen künstlichen Honig, aber kein Wasser. So fuhren wir 7 Tage lang. Wir kamen im Arbeitslager Neuroland? (schwer lesbar) bei Karlsbad an. Vor Schwäche stolperte ich bereits überall hin und sah alles doppelt. Ich hatte Geräusche in den Ohren und eine niedrige Körpertemperatur. Dann bekam ich Diphterie, eine Nervenentzündung, was die Ärzte zu Hause nachträglich laut diesen Symptomen feststellten. Wenn ich aß, lief mir das Essen durch die Nase durch und im Hals würgte es mich schrecklich.
Die Engländer kamen näher. Wir sahen, wie sie Karlsbad bombardierten und hörten das Getöse der Kanonen. Wir sehnten uns nach Befreiung. Durch das Fenster sahen wir, wie auf großen Wagen tote Gefangene gebracht wurden.Diese starben vor Hunger und es wurde gesagt, dass sie erschossen wurden. Das ganze Lager ging wieder weiter zum Abtransport, wir dachten schon, dass sie uns Kranke schon liquidieren werden. Plötzlich kam ein Lastwagen und nahm uns mit, die anderen gingen zu Fuß. Zwei Polinnen wollten fliehen. Sie wurden erschossen. Die eine war sofort tot, die andere starb bei uns. Die letzten Tage waren die schlimmsten. Meine Mutter und ich entfernten das jüdische Abzeichen,weil ich in einem Transport dabei war, in dem vor allem Arier und deutsche Gefangene waren. Ihr könnt euch vorstellen, in welcher Gesellschaft wir uns befanden, lauter Prostituierte, Berufsverbrecher und solche Frauen, die sich weigerten zu arbeiten oder die ein Verhältnis beispielsweise mit Polen hatten (Rassenschande usw.).
Sie wollten mich zwingen, dass ich weiter zu Fuß gehe. Unser Transport sollte angeblich nach Dachau geführt haben. Ich konnte nicht mehr weiter gehen und fiel bei jedem Schritt hin. Der Transportführer besorgte einen kleinen Anhänger und meine Mutter musste mich ziehen. Meine Mutter konnte mit dem kleinen Wagen kaum gehen.
Eine Deutsche erkannte mich und verriet, dass wir Juden sind. Man zog mich in den Wald. Ich blieb dort stehen und sah, dass sie mich erschießen wollten. Meine Mutter verlor den Lebenswillen, sie war erschöpft und sagte zu mir:
„Eva, wir werden sterben, es wird so besser sein.“
Ich habe meine Mutter und die zwei SS-Männer angesehen, die schon dabei waren, die Gewehre vorzubereiten. Plötzlich sah ich die Bäume und das Gras und es erschien mir unmöglich, mich von all dem für immer zu verabschieden. Ich dachte an meine Heimat und daran, dass ich über meinen Vater und meine anderen Lieben nichts mehr erfahren würde. Ich schaute auf den Transportführer und es kamen diese Worte aus meinem Mund zu den SS-Männern: „Ich bin erst 22 Jahre alt, ich möchte noch so gerne leben!“
Der eine SS-Mann sah mich an und sagte, dass wenn ich laufen kann, gibt er mir Vorsprung. Ich drehte mich mit meiner Mutter um und wir fingen an zu rennen. Wir liefen eine ganze Stunde. Sie verfolgten uns mit Hunden. Inzwischen näherten sich die Amerikaner und 4 Tage später flüchteten die SS-Männer gemeinsam mit den Aufsehern. Da waren wir schon in dem Städtchen Kladrau (?) und ich hatte eine Lungen- und Rippenfellenentzündung. Tagsüber und nachts waren wir draußen unter freiem Himmel. Bereits seit zwei Wochen waren wir ohne die Aufsicht der SS-Männer, dennoch unter dem deutschen Regime. Wir zogen herum durch das Sudetengebiet. Für einen Tag wurden wir noch von den SS-Männern verhaftet. Sie mussten ständig den Ort wechseln. Zwei bis drei Wochen später war es alles vorbei. Die Befreiung erlebten wir in Steiss (?) im Sudetengebiet.
Ich war bereits sehr krank. Mein Fuß war vor Erfrierungen eitrig. Danach kam ich nach Mies, wo man mich in ein deutsches Lazarett einwies. Ärzte und Seelsorger waren Deutsche, jedoch schon als Gefangene und hier wurden Repatrianten untergebracht. Hier wurde dreimal an meinem Fuß geschnitten. Meine Mutter organisierte, dass mich englische Sanitäter nach Pilsen brachten. Von dort benachrichtigten wir meinen Vater durch Radio und telefonisch. Lacko kam sofort und man brachte mich nach Prag. Als mein Vati aus Bratislava einen Militärwagen schickte, kam ich in diesem Wagen auf einer Trage in unsere Heimat, nach der wir uns so sehr sehnten. Und das gerade an meinem Geburtstag. Ich war sehr krank und schwach und wog nur 30 kg. Dann kam ich wieder ins Krankenhaus. Schwer, aber doch, lernte ich wieder laufen wie ein kleines Kind. Am Anfang nahm ich alle 5 Tage 3 kg zu, auch die Ärzte wunderten sich.
Jetzt war ich fast einen Monat lang in der Stadt Pest. Gott sei Dank geht es mir schon gut und mein Fuß ist wieder der alte. Ich habe vor, in die Tatra zu gehen, um vollständig gesund zu werden.
Auschwitz, Majdanek, Treblinka – für die Menschheit, für das jüdische Volk sind dies Synonyme des Leides, des Schreckens und der Höllenqualen. Wer es nicht erlebt hat, wird es nie verstehen. Für jene, die mit den persönlichen Geschichten ihrer verwandten Überlebenden großgeworden sind, sind dies Worte, die erzittern lassen.
So geht es mir persönlich mit Ravensbrück – ein dunkles, beängstigendes und beladenes Wort. Die Bundesstraße 96, die hier vorbeiführt, ist nicht einfach eine von vielen Straßen für mich. Der naheliegende See und der Wald sind keine ruhigen und idyllischen Orte für mich.
Nachdem Eva befreit wurde und nach Bratislava zurückgekehrt war, heiratete sie und brachte 1948 ihren Sohn Jan zur Welt. Im Jahr 1968 beschloss Jan in das Land des jüdischen Volkes auszuwandern, nach Israel, und sich dort eine Zukunft aufzubauen, weit entfernt von Europa, das seine Familie hatte vernichten wollen. 1978 kam ich zur Welt, Tal, der erste Enkel Evas. Im Jahr 1980 wurde in Israel der zweite Enkel geboren, Ben.
Eva blieb in Bratislava, wohin sie aus dem Inferno zurückgekehrt war und dort verstarb sie im Jahr 1995. Von ihrem zweiten Sohn wurden ihr noch zwei Enkeltöchter geschenkt, Miriam und Petra. Ich selbst begegnete Eva nur wenige Male. Bei der letzten Begegnung muss ich etwa 13 oder 14 Jahre alt gewesen sein. Eva wollte erzählen, um ihre Geschichte mit mir zu teilen. Aufgrund ihrer und meiner sprachlichen Grenzen, blieb als einzige uns verbindende Sprache das Deutsche. Ob wegen der Sprachbarriere oder wegen meines jungen Alters – ich erinnere mich nur noch an sehr wenig von dem, was sie erzählte. Der Brief, aus dem ich heute Teile vorlas, verbindet mich mit meiner Großmutter und ihrer Geschichte. Heute stehe ich hier, der Enkel Evas, als offizieller Vertreter des Staates Israel. Mit mir sind hier ihr zweiter Enkel, Ben, und unsere Ehefrauen.
Die Geschichte meiner Großmutter weckt in mir viele Gedanken und Fragen – Gedanken über die Beziehung und gegenseitige Hingabe zwischen Mutter und Tochter, aber auch über die Menschheit und über Menschlichkeit, über Moral, über das Recht und die Pflicht des freien Denkens und des Gewissens. Warum entschieden sich andere Gefangene dazu, meine Großmutter als Jüdin vor den Soldaten anzuschwärzen und sie damit in den sicheren Tod zu schicken, und warum entschied sich der SS-Mann, der aus unserer Sicht das Böse und die Brutalität verkörpert, dazu, ihr das Leben zu schenken?
Was ging in Eva vor, einer jungen Frau von 23 Jahren, als sie durch die Tore des Lagers Ravensbrück ging, nachdem sie zuvor ein halbes Jahr lang auf der Flucht gewesen war? Getrennt von ihrem Vater und ihrem Verlobten, allein mit ihrer Mutter. Was ging in ihr vor, als sie verhört wurden und sich weigerten zu verraten, wo der Vater und wo ihr Besitz waren? Was hast Du gedacht? Wie hast Du die Tage überstanden? Wie den Hunger, die Kälte, die Angst und die Todesangst?
Es ist nicht selbstverständlich, dass ich heute hier vor Ihnen stehe.
Der Brief, aus dem ich Teile vorgelesen habe, ist wie ein Gedenkstein. Großmutter Eva, alles, was Du versuchtest, mir zu erzählen – manchmal vergeblich – gebe ich heute weiter. An diesem Ort, wo Du vor siebzig Jahren die Gefangene 95718 warst, an der Seite Deiner Mutter, Urgroßmutter Renate.
Es gibt kein Bewahren, wenn es keine Menschen gibt, die es aktiv tun. Dieser Brief lag viele Jahre bei meinem Vater, geschrieben in seiner Muttersprache, einer mir fremden Sprache. Wegen des Schmerzes weigerte sich mein Vater lange Zeit, den Brief anzurühren oder ihn zu übersetzen.
Bei einem Treffen mit Frau Dr. Eschebach vor einigen Monaten, erzählte ich von meiner Absicht, den Kreis zu schließen und an der heutigen Veranstaltung im Gedenken an die Befreiung Ravensbrücks teilzunehmen. Ich erzählte Dr. Eschebach von dem zitierten Brief und dass ich meinen Vater bitten wolle, ihn für mich ins Hebräisch zu übersetzen. Dr. Eschbach sagte mir sofort aufgeregt ihre Unterstützung zu. Mein Vater machte sich an die Arbeit und übersetzte den Brief. Im Nachhinein sagt er, dass er befürchtet habe, aufgrund der Erlebnisse seiner Mutter und Großmutter schmerzhafte Wunden wieder zu öffnen, doch tatsächlich erleichterte die Übersetzung ihm die Erinnerung und vielleicht diente sie sogar als Heilmittel für seine Wunden. Das ewige Bewahren ist wichtig für die Erinnerung, aber auch für die Linderung des Schmerzes.
Verehrte Frau Dr. Eschebach, Danke, dass Sie mir bei der Übersetzung ins Deutsche geholfen haben und mich dazu ermutigt haben, heute hier zu sprechen. Ich hoffe, dass wir so den Leben Evas und ihrer Mutter dazu verholfen haben, zur Hantzacha, zur Bewahrung beizutragen und dem Aufrechterhalten der Erinnerung für die kommenden Generationen zu dienen.
Danke.
66 Jahre Israel | Bündnis gegen Antisemitismus Kassel // Mai 10, 2014 at 20:36
[…] In meiner offiziellen Funktion, als leitender Attaché der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Botschaft Israels in Deutschland, nehme ich an unzähligen Veranstaltungen und Begegnungen teil, bei denen wir, als Nachkommen der Täter und der Nachkommen der Opfer, die Brücke zu erneuern versuchen, die unsere beiden Völker verband. Wir stellen uns gemeinsam den Fragen nach Identität, nach Verantwortung und Verpflichtung. Gemeinsam versuchen wir, Begriffen wie zikaron und hantzacha, also Gedenken und Bewahrung – oder Verewigung – Bedeutung zu verleihen, und Lehren aus der Vergangenheit zu formulieren. Manchmal ist dies ein Dialog auf politischer und moralischer Ebene, und manchmal spielen auch ganz persönliche Perspektiven eine Rolle …” weiter gehts hier: Rede von Tal Gat in Ravensbrück am 4. Mai 2014. […]