Seit Wochen schon erfuhr ich aus den israelischen Medien von hunderten von Raketen, die fast täglich durch der Hamas auf den Süden Israels abgefeuert werden. Ich versuchte mich, in die Lebensumstände der Menschen dort hinein zu versetzen. Ich fühlte mich aber nicht persönlich betroffen, da diese Orte ja ungefähr ein bis zwei Fahrstunden vom Zentrum Israels entfernt liegen.
Am Radio und Fernsehen konnte ich zwar die Sirenen aufheulen hören, sobald sich eine Rakete auf diese Orte im Anflug war, dennoch übersteigt ein Leben unter ständiger so unmittelbarer Bedrohung mein Vorstellungsvermögen. Dies sollte sich am Donnerstag, dem 15. November ändern.
Ich bin in Herzlyia, wo ich an der dortigen Universität Psychologie studiere, auf dem Weg zur Busstation nach Tel Aviv, als plötzlich mein Handy summt. Dann noch mal. Und noch mal. Duzende Nachrichten mit dem Inhalt „bist du ok?“ erreichen mich. Ich verspüre Angst, denn ich realisiere, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss, weiss aber nicht was. Mein Handy klingelt und mein Vater erklärt mir aus der Schweiz, dass eine Rakete Tel Aviv erreicht hat. Ich erstarre und beginne zu weinen, ohne richtig zu wissen weshalb. Ich bin schockiert und perplex. Mit einer Rakete auf Tel Aviv hat niemand gerechnet. Die Hamas hat meine Stadt, hat mich angegriffen. Tel Aviv, das pulsierende Zentrum Israels. Meine Gedanken gehen sofort weiter an Freunde und Familie. Da die Telefonleitungen inzwischen zusammengebrochen sind, lese ich in einer Online-Zeitung nach, was genau geschehen ist. Und drücke alle fünf Minuten auf „refresh“, eine Angewohnheit, die mich bis jetzt nicht mehr verlassen hat. All meinen Bekannten geht es, dem Himmel sei Dank gut.
Die nächste Sirene erklingt tags darauf. Ich bin jetzt in Tel Aviv und koche für Schabbat, als plötzlich die Sirene anfängt zu heulen. Meine erste Sirene. Mein Herz steht still. Sofort renne ich ins Treppenhaus, das es mir in den Bunker nicht mehr reicht – Die 90 Sekunden Alarm sind schnell vorüber. Die Sirene verstummt. 2 Sekunden Stille. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Wo wird die Rakete einschlagen? Weit weg von hier oder gleich neben mir? Dann die Explosion und Erleichterung, dass mir nichts passiert ist. Sofort wandern die Gedanken wieder zu allen Bekannten. Der nächste Schock kommt noch am selben Abend. Jerusalem – die Heilige Stadt für Juden, Christen und Muslime – wird beschossen. Wie heilig kann ihnen Jerusalem sein, frage ich mich, und wie wichtig das Leben ihrer muslimischen Brüder, denn die Rakete ist nahe einem palästinensischem Dorf explodiert. Ich realisiere immer mehr, dass der Hamas nichts heiliger ist, als der Kampf gegen Israel, der Tod aller Israelis und Juden. Den ganzen Schabbat (ironischerweise der Ruhetag) bin ich und alle meine Freunde um mich herum angespannt. Als sich die Stimmung aufzulockern scheint, und schon die ersten Witze über die eigentlich nicht sehr witzige Situation gemacht werden, denn was sonst soll man tun, heult die nächste Sirene auf.
Als erstes nach Schabbat schalte ich meinen Computer ein. Gibt es Tote? Verletze? Vor einer Woche habe ich mich an einem Samstagabend noch darüber aufgeregt, dass die TV-Serie „how I met your mother“ nicht lädt und jetzt probiere ich herauszufinden, ob jemand von meinen Angehörigen und Freunden von einer Fajr 5 Rakete getroffen wurde. Jetzt spüre ich es: Das muss es wohl sein, das Gefühl, unter ständiger Bedrohung einer Terrororganisation zu leben, das Gefühl das die Israelischen Bürger im Süden seit 12 Jahren kennen und das ich bis vor einigen Tagen nicht nachvollziehen konnte.
Mit Entsetzen, aber leider ohne Verwunderung lese ich die internationalen Medien. Weshalb diese sich scheuen, Hamas eine Terrororganisation zu nennen und weshalb sie die Selbstverteidigungsaktionen Israels als Angriffe oder Attacken beschreiben, kann ich nicht verstehen. Es gab in der Vergangenheit Momente und Ereignisse, in denen ich Israels Aktionen mit kritischem Auge betrachtete. Dieser ist keiner davon. Dieses Mal sehe ich alles anders, denn ich bin persönlich bedroht, und die Regierung des Landes, in dem ich lebe, setzt alles daran, mich zu schützen.
Auf facebook teilt eine Freundin ein Bild, einen Screenshot, der BBC news, und ich traue meinen Augen nicht. Das Bild zeigt Menschen, die hektisch herumrennen und Schutz suchen, darunter steht „Gaza City, today.“ Aber es ist nicht Gaza City, es ist die Promenade in Tel Aviv. Ich weiss es, denn ich habe im Sommer jeden Tag dort verbracht. Es steigen Wut und Unverständnis in mir auf, denn ich kann wirklich nicht verstehen, wie so etwas passieren darf. Leider bleibt dieser Vorfall nicht der Einzige. Es gehen Bilder von toten „palästinensischen“ Kindern um die Welt. Es sind aber keine palästinensische Kinder sondern syrische. Israel muss also neben dem Kampf gegen den Terror auch den Kampf gegen die Medien aufnehmen. Und ich frage mich immer wieder weshalb. Weshalb will die Welt die Realität Israels einfach nicht sehen? Denn ich sehe sie ja hier und jetzt, ich bin mittendrin.
Meine kleine Schwester, die im Norden Israels wohnt, fährt für einen Tag in den Süden, nach Beer Sheva, um die Leute, die seit Tagen ihre Wohnung nicht verlassen haben, ein bisschen zu entlasten. Zuerst spreche ich mich dagegen aus, doch dann sehe ich ein, dass es doch ein edles Vorhaben ist. Sie spricht mit den Eltern und spielt mit den Kindern. Die Konversationen und Spiele werden jedoch alle paar Minuten von Sirenengeheul – in Israel „Zeva Adom“, rote Farbe genannt, unterbrochen. In einem der Bunker, nach Aussage meiner Schwester kleiner als mein Schlafzimmer, redet sie mit der Mutter eines schwerbehinderten Kindes. Da der Junge kaum mehr aus dem Haus kommt (seit über einer Woche kann er bloss ums Haus herum spazieren, um sich nicht zu weit vom Bunker zu entfernen), die Schule und seine Therapie nicht mehr besuchen kann, wird er sehr aggressiv, was in einem kleinen Bunker sehr unangenehm ist. Wegen seiner Immobilität muss er im Bunker schlafen, weil es zu schwierig ist, ihn in einem Notfall aufzuwecken und in den Bunker zu bringen.
Mein Leben geht weiter, denn den Triumph, vor lauter Angst meine Wohnung nicht mehr zu verlassen, will ich der Hamas nicht gönnen. Ich sitze in einer Vorlesung (meine Universität befindet sich in Herzlyia, knapp ausser Reichweite der von der Hamas abgefeuerten Raketen) und meine, einen lauten Knall zu hören. Ich werde schon paranoid, denke ich. Die online Zeitung zeigt mir, dass ich es nicht bin. Tel Aviv wurde schon wieder attackiert.
Die israelischen Soldaten stehen an der Grenze zu Gaza bereit, um all dem ein Ende zu setzen. Endgültig. Die Terroristen und ihre Waffen beseitigen. Und trotzdem hoffe ich, dass sie nicht ihn die Höhle des Löwen müssen. Denn der Löwe ist brutal. Furchterregend. Kennt keine Grenzen. Die Internetseite groupon.co.il wurde von einem Anhänger der Hamas gehackt und zu lesen sind so schreckliche und blutrünstige Drohungen, die mich in dem Masse erschreckt haben, dass ich sie hier nicht wiederholen will. Unter den Soldaten befinden sich meine Freunde, Bekannte und Mitstudierende. Es sind Menschen, mit denen ich vor einigen Tagen auf dem Campus einen Kaffee getrunken habe.
Man spricht über einen Waffenstilltand und ich atme auf. Vielleicht ist das Grauen bald vorbei. Die Hamas spürt den Zeitdruck und feuert unzählige Raketen über die Grenze, auf den Süden Israels. Und dann, am Mittwoch, dem 21. November, geschieht es. Ein Terroranschlag auf einen Bus in Tel Aviv. Ein Bus, in dem ich hätte sitzen können, den ich oft nehme. Mitten in meiner Stadt, meiner bekannten Umgebung, meinem Zuhause. Ich bin schockiert, obwohl ich es nicht sein sollte, denn in einem Video der Hamas, das einige Tage zuvor erschien, ist zu vernehmen: „Wir haben die Selbstmordattentate vermisst. Erwartet uns bald an Busstationen und in Kaffees. Schlaft nicht, denn wir werden in eurem Schlaf zu euch kommen.“ 21 Verletze und G“tt sei Dank keine Tote. Im Gazastreifen finden Feste statt, Freudenschüsse, an die Kinder werden Bonbons verteilt. Der Triumph wird gefeiert. Der israelische Ministerpräsident, Benjamin Netanyahu sagt:“ Wenn wir Zivilisten treffen nennen wir es Fehler; wenn sie Zivilisten treffen, nennen sie es Erfolg.“ Wohlbemerkt, dies alles geschieht während Verhandlungen über einen Waffenstillstand.
Ich glaube an den Frieden und an die Menschenrechte, und ich möchte an diesem Glauben festhalten. Problematisch wird es dann, wenn jemand gezwungen wird, gegen seinen Glauben zu handeln. Wie soll Israel reagieren, wenn während Verhandlungen über einen Waffenstillstand absichtlich Zivilisten angegriffen werden, während Israel alles daran setzt, so wenig zivile Opfer wie möglich zu treffen? Ein ehemaliger britischer Kommandant in Afghanistan sagt vor der UNO, dass es kein Land so viel daran setzt, zivile Opfer zu vermeiden, wie Israel. Die Hamas macht dies zur Herausforderung, da sie sich selbst und ihre Waffen in und neben Wohnquartieren, Kindergärten, Moscheen und Krankenhäuser verstecken. Die Israelische Armee wirft Flugblätter ab, übernimmt Radiowellen des palästinensischen Radios und ruft die Bewohner Gazas an, um sie zu warnen, wenn sie sich in der Nähe eines Zieles befinden. Ich möchte die hohe Zahl der zivilen Opfer auf der palästinensischen Seite auf keinen Fall trivialisieren. Doch ich möchte versuchen zu verstehen, wie es zu solchen Proportionen kommen kann.
Meine Gedanken sind während diesen Tagen oft auch bei den unschuldigen Palästinensern, die im Gazastreifen wohnen. Ich wünschte, die Situation wäre anders und wir könnten beide ohne Angst und in Frieden nebeneinander leben. Am Dienstag, den 20. November haben sich sechs mutige Palästinenser für Frieden ausgesprochen. Sie haben gedacht dass es vielleicht eine bessere Lösung, gibt als eine Terrororganisation als Staatsregierung zu haben. Die Hamas erschiesst sie auf offener Strasse. Ohne Gerichtsverfahren um zu entscheiden, ob und vor allem was sich diese Menschen zu Schulden haben kommen lassen. Fünf werden liegengelassen, so dass Passanten sie sehen, betrachten, treten und bespucken können. Der Sechste wird mit einem Kabel an ein Motorrad gebunden und durch Gaza City geschleift. Damit jeder sehen kann, was geschieht, wenn man anders denkt, wenn man an Frieden mit Israel glaubt. Meine Gedanken und Gebete sind mit jenen Bewohnern von Gaza, die anders denken, die an eine Lösung, an Frieden glauben – genau wie ich, die am liebsten aufschreien würden, so laut sie können um all dem ein Ende zu setzen. Doch wenn sie es tun, werden sie gelyncht. Ich glaube an Frieden und ich denke, dass es der Grossteil der Palästinenser auch tut. Und ich will diesen Glauben nicht aufgeben, auch wenn es manchmal schwer ist.
Am Mittwoch, dem 21. November scheinen wir diesem Ziel ein klitzekleines Schrittchen näher zu kommen. Es sieht so aus, als werde sich Israel und die Hamas über einen Waffenstillstand einig. Um 21:00 soll der Albtraum vorbei sein. Im Minutentakt schaue ich auf die Uhr. Bald ist es soweit. Um 21:00 atme ich auf. Selten habe ich solch ein Gefühl der Erleichterung empfunden. Wir haben es überstanden, und das, ohne die israelischen Bodentruppen nach Gaza hinein zu schicken. Dafür habe ich so sehr gebetet.
Um 21:07 muss ich feststellen, dass der Albtraum doch nicht vorüber ist, denn die nächsten Raketen landen schon wieder auf Israel. Sieben Minuten hat sich die Hamas an das Abkommen gehalten. Sieben Minuten! Um 21:40 sind es schon zwölf Raketen. Und Israel hält sein Feuer. Denn was würden die internationalen Medien denn sagen, wenn Israel während einer Waffenruhe Gaza bombardierte? Heute, am 22. November geht der Beschuss aus Gaza weiter. Es scheint mir, als ob die Hamas Israel provozieren will, wie ein kleines Kind. Aufrichtig verwirrt lese ich die „Neue Zürcher Zeitung“ und den „Tagesanzeiger“. „Die Waffenruhe scheint zu halten“. Ich weiss doch, dass dies nicht stimmt, ich weiss doch, dass die Hamas die Waffenruhe schon nach lächerlichen sieben Minuten gebrochen hat. Eine Kassam Rakete hat nur 15 bis 30 Sekunden, bis sie Israel von Gaza aus erreicht. Die Raketen wurden also definitiv nach dem Abkommen abgefeuert. Ich finde mich selbst kopfschüttelnd an meinem Pult sitzen. Ich kann diese Welt nicht verstehen. Ich hoffe, dass Israel sein Feuer hält, sich nicht von der Hamas provozieren lässt und die Hamas einen solchen internationalen Druck verspürt, dass sie sich zum Aufhören gezwungen fühlt. Doch wie soll das geschehen, wenn ihre Angriffe trotz Waffenstillstand nicht in den internationalen Schlagzeilen zu finden sind?
Diesen Konflikt vor Ort zu erleben fühlt sich ganz anders an, als frühere ähnliche Ereignisse aus der Schweiz zu beobachten. Wenn immer etwas geschah, musste ich Israel verteidigen, musste als aussenstehende Person erklären, weshalb Israels Handlungen gerechtfertigt sind. Hier in Israel bin ich Teil davon. Ich lese nicht nur die Fakten, ich erlebe sie. Und irgendwie, ich weiss nicht weshalb, möchte ich trotz der enormen und allgegenwärtigen Angst an keinem anderen Ort lieber sein als hier, in Israel.
Alles was ich will, ist wieder ein normales Leben führen zu können, ohne andauernd Angst zu haben, ohne zu überlegen wie ich es vermeiden kann, mich mit den öffentlichen Bussen fortzubewegen (der Israelische Geheimdienst hat bekannt gegeben dass er 12 weitere geplante Terrorattentate vereitelt hat). Ich möchte zur Uni und zum Supermarkt gehen, ohne bei jedem Schritt die nächste Schutz bietende Stelle zu suchen. Ich möchte duschen, und zwar länger als zwei Minuten, denn was würde ich tun wenn eine Sirene aufheult während ich unter der Dusche stehe. Ich möchte am Abend ausgehen ohne Angst zu haben, in die Luft gesprengt zu werden. Ich möchte mich neben einem arabisch aussehenden Menschen befinden können, ohne zu denken, dass er vielleicht ein Terrorist ist und unter seinem T-Shirt einen Sprengstoffgürtel verbirgt. Ich möchte Nachrichten schauen könne, ohne einer Terrorattacke oder einem Raketenbeschuss zu hören und sofort alle meine Lieben zu kontaktieren. Ich möchte eine normale 22-jährige Studentin sein, die lebt und ihr Leben geniesst. Ich möchte, dass auch eine 22-jährige Studentin auf der anderen Seite der Grenze, die unter dem Terrorregime der Hamas lebt, ihr Leben lebt und es geniessen kann. Ich möchte Frieden.
Lisa Rabner – Israel
Im Internet haben einige deutschsprachige Blogger, die in Israel leben, über die Situation vor Ort geschrieben:
Gan Eden – „Der Krieg in meinem Kopf“
Blick auf die Welt-Von Beer Sheva aus – „‚Alltag‘ unter Raketen
Berlin Israel – „Israelisches Tagebuch 55-61“
M. Zürndorfer // Nov 26, 2012 at 03:08
Lese das erste mal einen Beitrag eines Menschen, der tatsächlich in Tel Aviv lebt, durch das Aufwachsen in der Schweiz der emotionalen Verankerung eines „durchschnittlichen“ Israelis aber doch noch verngeblieben ist. Ich gehe deshalb von einer erhöhten Objektivität deinerseits aus, was deinen Beitrag sehr glaubhaft macht. Ich habe auch Verwandte in Tel Aviv, doch diese verlieren schnell jegliche Objektivität, wenn es um den Nahostkonflikt geht. Danke auch für die Informationen, die uns hier wohl etwas anders erreicht haben. Andererseits bin ich doch auch von deiner etwas naiven Ansicht dieses Konfliktes, gar eines kriegerischen Konfliktes im Allgemeinen, überrascht. So bekomme ich gegen Ende deines Beitrags immer mehr das Gefühl, dass du den bisherigen Verlauf dieses 60 jährigen Konfliktes schlicht ausblendest.
http://teainforma.blogspot.dk/ // Jan 7, 2013 at 21:31
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